Viele Menschen der Geschichte träumten von dem Baum der Bäume, einem immergrünen, bis in den Himmel reichenden Baum des Lebens. Ein ewiger Baum, Sinnbild des Daseins schlechthin. In mehreren Kulturen unserer Vergangenheit kann so ein Baum gefunden werden. Oft wird er auch als Weltenbaum bezeichnet. In vergangenen Zeiten, da war das Dasein wesentlich härter und die Menschen litten unter dem Wechsel der Jahreszeiten. In diesen Zeiten spendete der Gedanke an einen immergrünen, nie vergänglichen Baum Trost und Hoffnung. Solche Vorstellungen wurden wohl von Völkern getragen, die man als „Baumkulturen“ bezeichnen könnte. Sie verehrten heilige Bäume, auch als Symbole der Fruchtbarkeit und der Schöpfung. Diese Bäume wurden zu Weltenbäumen, welche die Welten in ihrem Geäst trugen. In dem Weltenbaum vereinigen sich die Welten und somit alle Schöpfung. Gleichzeitig bildet er die Weltachse, begründet somit das Weltengefüge an sich.
Eine weitere Eigenschaft dieses weltenumspannenden Baumes ist, dass er die „normale“ Welt, unsere sterbliche Welt, mit dem Himmel und der Welt der Götter und der Unterwelt, der Welt der Toten, verbindet. Die alten German kannten so einen Weltenbaum und nannten ihn Yggdrasil. Von ihm selbst ist kaum etwas überliefert, denn sie hinterließen uns nur wenige Schriften, Gesänge und Dichtungen, die allesamt von mittelalterlichen Schreibern aufgezeichnet wurden, allen voran Snorri Sturluson. Ihm verdanken wir die sogenannte Snorra-Edda, in welcher der Baum mehrmals erwähnt wird, leider nie sehr ausführlich. Dennoch erfahren wir so manches über seine Welten, seine Bewohner, wo seine Wurzeln schlagen und mehr. Die Bedeutung seines Namens ist bis heute nicht gänzlich geklärt. „Ygg“ stammt wahrscheinlich vom altnordischen „yggr“ und bedeutet „Furcht, Schrecken“. Dieser Teil des Namens könnte sich auf Odin beziehen, denn er wurde auch „der Schreckliche“ genannt. Das „-drasil“ könnte mit dem altnordischen Wort „drasill“ zusammenhängen, was „Pferd“ bedeutet. Oder es stammt von dem Begriff für die Last, die ein Pferd ziehen muss. So wird der Begriff oft mit das „Pferd des Schrecklichen“ oder „Pferd des Odin“ übersetzt oder einfach nur „Träger Odins“. Das mag vielleicht merkwürdig anmuten. Jedoch muss man bedenken, dass es in der Edda ein Lied gibt, bei dem der Gott Odin sich an einem Baum erhängte und dort neun Nächte verbrachte. Genauso viele Nächte, wie es Welten nach der altnordischen Vorstellung gibt.
Dieser Baum könnte für die Weltenesche der Germanen stehen. Und noch viele Jahrhunderte später werden die Deutschen und Engländer den Galgenbaum als Ross bezeichnen. Der Gehängte jedoch wird Reiter genannt. Yggdrasil wird als Weltenesche bezeichnet. Diese Esche stellt der erste Baum dar, welcher von den Asen gepflanzt wurde, nachdem Odin und seine Brüder den Ur-Riesen Ymir töteten und aus seinem Körper die Welt erschufen. Mit der Zeit wuchs diese Esche zum größten Baum heran, welche die Welten miteinander verband. Die Vorstellung der Germanen vom Universum sieht eine Welt als Scheibe vor. Wurzeln und Äste des Baumes breiteten sich über alle Welten aus. Die Esche wurde damit zu einem Sinnbild der Schöpfung, welches gleichzeitig Raum und Zeit miteinander verbindet. Viele verschiedene indogermanischen Kulturen kennen das Prinzip des Baum des Lebens. In der indischen Kultur befindet er sich auf dem heiligen Berg Meru. Die Balten kannten die Eiche Austrakas koks, die Perser den Simurgh-Baum. Oft befindet sich ein Vogel in ihren Baumkronen oder eine Schlange nagt an den Wurzeln. Alles Elemente, die wir auch in der nordischen Mythologie vorfinden. Auch in der Krone der Weltenesche hat ein gewaltiger Adler sein Nest aufgeschlagen.
Der Adler schlägt mit seinen Flügeln und produziert damit den Wind. Die Weltenesche hat drei große Wurzeln, die zu bestimmten Plätzen am Fuße des Baumes führen. Einer dieser Wurzeln endet in Jötunheim. Jötunheim ist das Land der Riesen. Hier befindet sich auch Mimirs Brunnen, der allen Wissen und Weisheit schenkt, die aus seinem Wasser trinken. Odin gab eines seiner Augen dafür her, damit Mimir ihn passieren und vom Brunnen trinken ließ. Den Wurzeln entspringt auch der Urdbrunnen. Bei ihm befinden sich die drei Nornen Urd, Werdandi und Skuld. Jeden Tag besprengen sie den Weltenbaum mit dem Wasser des Urdbrunnens. Dieses Wasser ist heilig. Der Baum des Lebens speist sich hier nicht ganz aus eigener Kraft, sondern muss jeden Tag von den Nornen erneuert werden. Der Urdbrunnen ist auch der Schicksalsbrunnen und die drei Nornen sind die Schicksalsfrauen. Dies soll auch der Ort sein, an dem die Asen Thing halten. Ein weiterer Quell ist der Hvergelmir. Dieser speist die Flüsse der gesamten Welt mit seinen Wassern. Möglicherweise handelt es sich bei all diesen Quellen um ein und denselben, nur unter anderen Bezeichnungen. Hvergelmir jedoch soll sich nahe Niflheim befinden, wo eine der anderen drei großen Wurzeln hinführt. Niflheim ist das Land des Nebels und der Kälte. Es ist auch die Heimat von Nihöggr, dem Neiddrachen.
Dieser Drache nagt jeden Tag an den Wurzeln der Weltenesche. Das Eichhörnchen Ratatöskr klettert den Baum hoch und runter und übermittelt die Schmähreden, welche der Adler in der Krone und der Drache miteinander austauschen. Die letzte Wurzel führt zum Reich Asgard oder Asaheim. Ja, etwas verwirrend, denn Asgard gehört eigentlich in den Himmel und nicht nach dort unten, wo man die Wurzeln eines Baumes vermuten würde. In Asgard befinden sich die Burgen, Hallen und Wohnstätten der Asen. Die beiden anderen Welten, die zur Oberwelt oder Himmel gehören, nennen sich Wanaheim und Ljosalfheim. Wanaheim ist die Heimat der Wanen, einem Göttergeschlecht, das zumeist mit der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wird. Ljosalfaheim ist die Heimat der Lichtalben. Teil der Erde, unserer Welt und eher in der Mitte des Weltenbaums gelegen, ist Midgard. Das ist die Heimat der Menschen, wie wir sie kennen. Jötunheim soll ebenfalls hier liegen und auch Muspelheim. Muspelheim ist das Reich der Feuerriesen und wird als Land voll Feuer und Rauch beschrieben. Zu der Unterwelt gehört das schon genannte Niflheim, das dunkle Land des Eises und des Nebels. Hier unten befindet sich auch Svartalfaheim, die Heimat der Schwarzalben.
Das sind die Zwerge aus der nordischen und germanischen Mythologie, die wundersame Gegenstände, Schiffe und Waffen schufen. Im Gegensatz zum lichtreichen Ljosalfheim befindet sich die Welt der Zwerge unter der Erde. Und die letzte der neun Welten stellt Helheim dar, das Reich der Toten. Das sind die neun Welten der germanischen und nordischen Mythologie. Sie sind alle durch Yggdrasil miteinander verbunden. Der Weltenbaum stützt damit die Unterwelt, die Erde und den Himmel. Wie wir sehen konnten, reichen seine Wurzeln auch bis zum Himmel. Der Weltenbaum ist die Welt an sich, somit die Schöpfung an sich. Steht die Weltenesche, dann blüht das Leben. Fällt er im Zuge des Ragnarök, der nordischen Apokalypse, dann endet auch das Leben. Richard Wagner verdeutlichte das in seiner Oper „Götterdämmerung“. In dem Stück bricht der Baum in dem Moment, wo Asgard untergeht. Über den Kult der Germanen wissen wir leider nur sehr wenig. Sicher ist, dass verschiedenste indogermanische Kulturen einen Weltenbaum kannten. Schon in Mesopotamien finden sich Darstellungen von Lebensbäumen. Zwar gibt es keine Belege dafür, dass die Germanen ihren Lebensbaum direkt angebetet hätten. Jedoch sind zahlreiche Baumkulte belegt.
Dadurch ist es sehr wahrscheinlich, dass diverse Bäume in der Natur an seiner Stelle verehrt wurden. Es muss sich aber nicht um Eschen handeln. Aus der Geschichte ist uns die Donareiche gut bekannt und der heilige Baum im schwedischen Uppsala. Von diesem berichtet Adam von Bremen im 11. Jahrhundert, dass es sich um eine immergrüne Eibe handelte. Ein weiterer möglicher Beleg für die Bedeutung des Baumes als Kultort könnten die mittelalterlichen Gerichtsbäume sein. Hier hielten die Menschen gelegentlich Gericht. Die Asen hielten ihr Thing auch unter dem Weltenbaum ab. Beim Thing der Germanen vermutet man, dass Rituale abgehalten wurden und dem Thing auch eine religiöse Bedeutung zukam. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Weltenesche in der Form des Gerichtsbaumes noch lange in christlicher Zeit bestand hatte.